Eines meiner Schulbücher – 2. bis 4. Klasse – trug diesen Titel. Es beschäftigte sich mit deutscher Rechtschreibung und noch viel mehr mit Grammatik. Für die meisten meiner Mitschüler ein ätzendes Fach, für mich oft sehr interessant, jedenfalls immer dann, wenn die Lehrerin es schaffte, den Stoff etwas aufzulockern. Ich mochte Sprache und Sprachen von Anfang an.
Was ich zunächst wie selbstverständlich hinnahm, war die Tatsache, daß es sich um MUTTERsprache – im Prinzip also die Sprache meiner Mutter bzw. vieler Mütter um mich her – handelte, um die Sprache, die mir Wurzeln gab und tiefes Verständnis. Dabei liebte ich es damals schon, Aufsätze zu verfassen, die viele ihrer Möglichkeiten ausloteten. Und je mehr ich zum Leser wurde, desto mehr wuchs sie mir förmlich ans Herz.
Doch mir fiel bereits auf, daß es Bücher (Romane, Erzählungen) gab, in denen auf Worte wie „trotz“ oder „wegen“ der Genitiv folgte, während man in anderen den Dativ verwendete. Eine nur schwer umkehrbare Tendenz war eingetreten, die Jahre bis Jahrzehnte später von Bastian Sick in dessen berühmter und spöttischer Veröffentlichung DER DATIV IST DEM GENITIV SEIN TOD karikiert wurde. Obwohl, wie ich fand, der Genitiv schöner, runder und geschliffener klang, ging man selbst in der Schule dazu über, in den genannten Fällen den Dativ zu gebrauchen. Benutzte ich selbst in irgendeiner Arbeit jedoch den Genitiv, wurde das wenigstens nie als Fehler gewertet.
So etwa sahen die fast lächerlichen Anfänge einer Entwicklung aus, die eine großartige und ungemein reichhaltige Sprache, unsere deutsche MUTTERsprache, inzwischen fast schon vernichtet hat. Konnte man den Weg von Genitiv zu Dativ noch einigermaßen so verstehen, daß er anscheinend einem natürlichen Prozeß von Vergehen und Werden folgte, war das, was später kam und erst recht nach der vielbeschworenen „Wende“ über uns hereinbrach, schließlich eine – empfunden – mutwillige Zerstörung einer unserer seinsstiftenden Grundlagen. Nicht nur, daß man unzählige deutsche Begriffe durch englische ersetzt hat und mit deren immer selbstverständlicherer Verwendung die ursprünglichen der Vergessenheit anheimgibt, sondern es existieren auch nur noch kümmerliche Reste einer stolzen und schönen Grammatik. Selbst diejenigen, die von sich sagen, sie seien mit der deutschen Sprache aufgewachsen, und es sei ihre MUTTERsprache, wissen oft nicht mehr, daß es zum Beispiel heißt: „Die Kellnerin brachte mir einen Kaffee.“ Im Gesichtsbuch schreiben sie wie selbstverständlich: „Die Kellnerin brachte mir ein Kaffee.“ Der Imperativ (Befehlsform) vieler Verben (Tätigkeitswörter) ist den meisten schon völlig unbekannt. Sie wissen nicht mehr, daß es LIES! heißt statt LESE!, und wenn ich Sprüche sehe, die ich zwar als Aussage treffend und insgesamt gut finde, die aber auf so verkorkste Weise in die Welt geschickt werden, teile ich sie allein wegen ihrer in meinen Augen häßlichen Form nicht.
Viele mögen lachen, wenn sie diese Zeilen lesen und sagen: „Dieser Spinner, was hat er nur!? Hauptsache, man versteht, was gemeint ist.“ Dieselben Leute regen sich über jeden Kratzer an ihrem Auto auf. Wer etwas liebt, den schmerzt es eben, wenn dieses Etwas verstümmelt wird, und diese Verstümmelung weitet sich im Fall der deutschen Sprache längst zur regelrechten Zerstörung aus.
Von einem gewaltigen, unglaublich reichen Wortschatz, aus dem Dichter und Schriftsteller selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg (Hermann Hesse, Heinrich Böll) schöpften und ihre Inspirationen bezogen, sind nur noch kümmerliche Reste übriggeblieben. Viele Schreibende, die sich selbst als Autoren betrachten, sind, bei Licht besehen, nicht mehr in der Lage, Synonyme (Begriffe mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung) zum Beispiel für das Wort „sagen“ zu finden, und ihre Veröffentlichungen quellen über von ermüdenden Wiederholungen.
All das zu beklagen ist so dumm wie altmodisch, ich weiß. Es ist indessen meine MUTTERsprache, die Sprache meiner MUTTER, die mir Wurzeln gab und es mir ermöglichte, die Bilder meiner Seele zum Ausdruck zu bringen. Es gelingt mir nicht, in die allgemeine Verachtung des Deutschen einzustimmen und seine Schätze unbekümmert über Bord zu werfen. Zumal es auch die Sprache vieler großartiger Schriftsteller (und Übersetzer!) ist, die meinen Horizont erweitern, mir Tiefe geben und mein Leben seit vielen Jahren bereichern.
Wahrscheinlich ist den meisten von uns nicht klar, daß ein wesentlicher Teil von ihnen selbst (ein Teil, der dem Herzen nahe ist!) stirbt, wenn ihre Muttersprache ausgelöscht wird und sie das mit sich geschehen lassen, ja es vielleicht sogar bejubeln.
Deshalb beteilige ich mich nicht an virtuellen oder Direktveranstaltungen, die sich SoulTalk (Warum nicht „Seelengespräch“? Weil es der in Deutschland oder Österreich inkarnierten Seele zu nahe wäre?) nennen, und möge der entsprechende Guru noch so berühmt sein. Deshalb geht mir BodyBalancing (Warum kann man nicht von Körperbalance sprechen?) am A… vorbei, ob es nun für mich eine spannende Erfahrung wäre oder nicht, und deshalb besuche ich hartnäckig meine Kinder und niemals meine Kids. (Während ich einem amerikanischen oder irischen Frager, der des Deutschen nicht mächtig ist, mit ebensolcher Begeisterung zur Antwort geben würde: „I’m gonna see my folks!“) Und wenn die Enkelin meiner Liebsten in ihrer drollig-altklugen Weise zu mir sagt: „Das weiß ich wohl!“… keimt leise Hoffnung in mir auf, daß sich der Phönix wieder aus der Asche erheben kann.
Oder versuche ich etwa nur, in den von mir selbst verfaßten Büchern eine Sterbende (eben diese Muttersprache) verzweifelt und künstlich am Leben zu erhalten, obwohl es ein aussichtsloses Unterfangen ist?
Ich kann nicht anders.
So wie manche Leute von Autos, Markenkleidung oder Stilmöbeln begeistert sind, erfüllen mich Sprachen. So wie mancher vom Aufenthalt in seinem Garten oder im Wald gestärkt wird, gibt es mir Kraft, Sätze zu hören oder zu lesen, die schlichtweg SCHÖN gefaßt sind. Erst recht, wenn es sich um eine Sprache handelt, deren Ausdrucksreichtum und natürliche Schönheit heute vollkommen unterschätzt werden und eine Renaissance, eine Wiedergeburt, verdient hätten: um meine deutsche Muttersprache.
Andreas H. Buchwald Lengenfeld, 6. Juni 2021
P.S.: Die Genderisierung („Vergeschlechtung“, würde der große PONS diese grauenvolle Wortschöpfung wahrscheinlich verdeutschen) habe ich in diesem Artikel nicht erwähnt, weil ich sie für dermaßen groben Unfug halte, daß sie meine Aufmerksamkeit nicht verdient.