Noch im letzten Jahr hatten wir uns auf dem Literaturfest Meißen pudelwohl gefühlt. Immerhin hatte sich unser Stand zu einem wahren Publikumsmagneten entwickelt. Und Dieter Kalkas Vorstellung seiner Gender-Streitschrift auf dem Marktplatz bildete ebenfalls einen.
Für dieses Jahr hatte man unsere Bitte um eine erneute Standpräsenz auf dem Heinrichsplatz abschlägig beschieden, mit der eigenartigen Begründung, „andere wollten auch einmal eine Chance bekommen“. Nun, das nahmen wir erst mal so hin, obwohl es ein ungutes Bauchgefühl auslöste und die bohrende Frage hervorrief, was der wahre Grund für diese Ablehnung sein mochte.
Zwei Lesungen in der Urbanskirche – auf dem anderen Elbufer und unabhängig von dem Veranstaltergremium vereinbart – waren immerhin drin. Wegen einer weitläufigen Straßenbaustelle gestaltete sich der Anfahrweg zu dieser Lesebühne ziemlich schwierig, weshalb sich auch die Anzahl der Zuhörer in Grenzen hielt. Wir waren dennoch sehr zufrieden mit dem Zuspruch und dem Interesse des Publikums und hatten für den Samstag geplant, einige unserer Autoren zu treffen und einfach zu schauen, wie sich Meißen diesmal insgesamt präsentierte.
Was wir sahen und erlebten, ernüchterte uns. Auf den Programmanzeigetafeln wurde schon mal ziemlich oft gegendert (was uns entweder zum ersten Mal auffiel oder was man zum ersten Mal so hatte ausdrucken lassen). Besonders die Lesebühnen Markt und Heinrichsplatz schienen für die Vorstellung „politisch korrekter“ Texte vorgesehen zu sein. Zumeist lasen auch irgendwelche Schauspieler oder Lehrer aus konventionellen Texten; es gab vergleichsweise wenige unmittelbare Autorenlesungen. Ein Ereignis wie das, welches unser guter „Beulenspiegel“* im letzten Jahr dem Publikum bot (bekanntlich nicht folgenlos), wäre in diesem undenkbar gewesen.
Das Fest insgesamt hatte, zumindest gefühlt, auch deutlich weniger Besucher. Die Allgemeinstimmung lag weit unter der des letzten Jahres (oder wir haben sie nur subjektiv so wahrgenommen). Da wir deutlich sahen, dass dieselben Verlage, die im vergangenen Jahr neben uns ihren Stand hatten, in diesem durchaus wieder präsent sein durften, kam fast zwingend die Frage auf, warum gerade wir nicht mehr erwünscht waren. Und das Gesamtumfeld, ja allein schon das Programm, schien sie deutlich zu beantworten.
Gertrud Erbler, die, inzwischen weit über Achtzig, wieder aus Wien anreiste, um aus ihrer HEIDERMÜHLENHANNA zu lesen, hätte – nach unserem Dafürhalten – auf die Marktbühne gepasst. Sie las großartig und zu Herzen gehend, auf einer Minilesebühne, die fast ein wenig im Abseits lag (Lorenzgasse 2) und im vergangenen Jahr als solche noch gar nicht existierte. Die Wienerin verkaufte gut, ihr Erfolg ist zudem der unsrige. Es war schön, sie wiederzusehen. Die HEIDERMÜHLENHANNA, die Romanbiografie ihrer Großmutter, gehört zu den Büchern, die man von der ersten bis zur letzten Seite nur ungern aus der Hand legt und ist von der Herstellung her das schönste, welches der AndreBuchVerlag in Verbindung mit dem Wiener Kulturinstitut SCRIBERE & LEGERE bisher herausgab. Und es hat mindestens zwischen den Zeilen subversiven Charakter, weil es das Gedächtnis aufrechterhalten möchte (Wie verhielten sich z. B. die Menschen, als man sie für den Ersten Weltkrieg „vorbereitete“? Wie verhielten sie sich, als die NSDAP ihren Sieges- – oder besser Raub- –zug antrat? Denn ohne zivilen Gehorsam und breite Obrigkeitshörigkeit hätte keiner der beiden großen Kriege je stattfinden können …).
Überhaupt möchten wir als Verlag dafür stehen, dass gerade auch die Zeiten, die wir jetzt erleben, nicht vergessen werden. Erinnern, echtes, lebendiges Erinnern ist meistens ein Wagnis, denn es erfordert fast immer einen Blick in den Spiegel. Das ist nicht Jedermanns Sache, trotzdem sehe ich selbst es als einen Teil meiner Aufgabe an, meine Bücher als ehrliches Gedächtnis meiner Zeit zu schreiben. Gemeinsam halten wir Ausschau nach Autoren und Netzwerkern, die uns dabei unterstützen.
Den Rest des allzu einspurig gewordenen und berechenbaren Literaturfestes ersparten wir uns und fuhren beizeiten nach Hause. Dennoch war es gut, dass wir uns noch einmal auf Meißen eingelassen hatten, um diesmal eine Seite wahrzunehmen, für die wir – allzu beschäftigt – in der Vergangenheit keinen Blick gehabt hatten. Ent-Täuschung ist das Ende einer Täuschung, und jeder Abschied öffnet das Tor für neue Begegnungen.
Andreas H. Buchwald Lengenfeld, 11. Juni 2023
* Dieter Kalka, der Autor der Genderstreitschrift Negerküsse in Zigeunersoße, nennt sich gern auch Andreas Beulenspiegel.