LESEN

Wenn es sich um einen Text handelt, der mich vom Hocker reißt, ist es ein geradezu sinnliches Vergnügen. Ich liebte die Offenbarungen der Bücher von Kindheit an. Noch bevor ich in die Schule kam, las mir meine hörgeschädigte Großmutter alle möglichen Märchen der Brüder Grimm vor, während mir mein Vater gelegentlich die eingängigsten Versgeschichten von Wilhelm Busch zum besten gab. Damals enthielten die meisten Bücher noch viele Bilder, die die Magie des kindlichen Erlebnisses verstärkten.
Der Mensch kann sich durch Lesen eine innere Schatzkammer füllen, die ihn zu lebenslangen starken Inspirationen befähigt, auf welchem Gebiet auch immer. Und obwohl meine Kindheit grundsätzlich von harter Arbeit (Landwirtschaft, Kuhstall) geprägt war, förderten meine Eltern, ganz besonders aber die erwähnte Großmutter, meinen Lesehunger von Anfang an. Letztere besuchte uns selten ohne ein Buchgeschenk für mich, und ein Weihnachten ohne Bücher (ich kann mich an kein solches erinnern) wäre ausgesprochen traurig für mich gewesen. So mußte es wahrscheinlich so kommen, daß der Traum, einst selbst Schriftsteller zu sein, damals schon geträumt wurde, nach meiner Erinnerung im Alter von neun oder zehn Jahren, bei der Lektüre von Jules Vernes Roman DIE KINDER DES KAPITÄNS GRANT (an dieser Stelle für Reisefreudige empfohlen), die ich so genoß, daß ich sie mindestens dreimal wiederholte (im durchschnittlichen Abstand von jeweils drei Jahren).
Die klassischen Erzähler schreiben zumeist so, daß Leser in ihren Geschichten Sympathien entwickeln und sich unter den handelnden Figuren Vorbilder suchen. Oder daß sich ein Heranwachsender sagt: So möchte ich auch mal werden (so gelassen, so stark, so friedensstiftend, so ehrlich, so liebevoll o. ä.). Deshalb ziehe ich auch heute noch, wenn ich gerade vor der Frage stehe, ob ich ein neuzeitliches Werk lesen sollte oder das eines Klassikers, das ich noch nicht kenne, das letztere vor. Da steckt zu neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit mehr Gefühl drin, mehr Leidenschaft, mehr Weisheit und Erkenntnis. Vom reicheren Wortschatz einmal ganz abgesehen. Während die meisten heutigen „Werke“, so jedenfalls nach meiner Erfahrung, hauptsächlich „Sex&Crime“-orientiert sind und sich darin gefallen, die menschlichen Abgründe und Dunkelheiten hervorzuheben. (Was durchaus einen gewissen Reiz hat, mir aber schneller langweilig wird, weil ich da nur selten Sympathien entwickeln kann und mir manchmal auch die platte, extrem oberflächliche Fäkaliensprache auf den Geist geht). Ich vermisse dann das, was man vielleicht mit einem Begriff wie SUBSTANZ am besten beschreiben kann.
Als selbst Schreibender bin ich noch immer Leser geblieben. Das Fernsehen – auch ich erlebte Jahre, in denen es eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielte, aber das waren nicht die erfülltesten – hat es mir gegenüber nicht geschafft, den Büchern den Rang abzulaufen. Und da ich inzwischen ziemlich oft den Kontrast zwischen „Fernsehmenschen“ und „Buchmenschen“ erlebe, bin ich sehr froh darüber.
Oft tritt jemand an uns heran, der ein Buch in die Welt bringen möchte. Wenn es sich dabei um einen Menschen handelt, der weder selbst liest noch überhaupt an Literatur interessiert ist, bin ich geneigt, ihm fragwürdige Motive zu unterstellen. Mir vergeht dann schnell die Lust, ein solches Buch aus der Taufe heben zu helfen. Warum möchte jemand seinen Mitmenschen eine Anstrengung (zu lesen nämlich, sein Buch zu lesen!) zumuten, die er selbst meidet? Auch meine Partnerin ist solchen Schreibern gegenüber mißtrauisch; wir brauchen dann eine Menge diplomatisches Geschick, um dem Betreffenden unsere Ablehnung möglichst freundlich mitzuteilen.
Ich glaube grundsätzlich, daß, wer das Lesen liebt, auch gut schreiben kann. (Womit ich mit „gut“ weniger die Orthographie oder die Grammatik meine, sondern den erzählenden Fluß, die Energie eines geschriebenen Werkes. Walter Moers würde es das „Orm“ nennen. Das übrigens auch ein Studium nicht erzeugen kann.)
Was ich denn selbst lese, ganz konkret?
Nun, heute noch stehen in meinem privaten Bücherregal vier Bände, die ich zwar gelegentlich ausgeliehen, aber immer nachdrücklich zurückgefordert habe. Sie wurden lange schon nicht mehr aufgelegt, aber sie sind so echt und hautnah und ehrlich wie selten ein Roman, so daß ich nicht weiß, ob ich sie noch mal und noch mal und noch mal lesen werde …: die Tetralogie EINE SCHWEDISCHE CHRONIK von Vilhelm Moberg. Wer in die Zeit der großen Auswanderungen nach Amerika (Mitte 19. Jh.) eintauchen und eine solche Odyssee intensiv miterleben möchte, dem seien diese Bücher wärmstens empfohlen. Auch WURZELN von Alex Haley gebe ich nicht weg, oder Franz Werfels DIE 40 TAGE DES MUSA DAGH. Hermann Hesse gehört selbstverständlich zu meinen Kostbarkeiten, und von Charles Dickens habe ich immer noch sämtliche Romane, die bei Rütten & Loening in der DDR erschienen sind. Joseph Roth, Hans Hellmut Kirst, Stefan Zweig, Pearl S. Buck,Sigrid Undset, Harper Lee Jack London, Mark Twain, Robert L. Stevenson, Victor Hugo, Fjodor M. Dostojewskij, Aleksander Solshenizyn… Gegenüber früherer Jahre ist mein privates Regal doch schon einigermaßen ausgedünnt, denn meine zahlreichen Umzüge haben ihren Tribut gefordert, aber die Genannten werden mich wohl noch eine Weile begleiten.
Ach so: Von den Deutschen, den oft als „Dichterfürsten“ bezeichneten, ziehe ich Friedrich Schiller dem allgemein verehrten Goethe vor. Gefühlssache irgendwie, kann ich nicht erklären.
Manchmal packt es mich, dann lese ich einen „Neuen“, „Modernen“. Und mache dabei eindrucksvolle Entdeckungen. (So zuletzt Robert Schneider, KRISTUS, ein Roman mit dazu passender, unglaublich vielseitiger Sprache über Jan Beukels von Leyden und die Diktatur der Wiedertäufer in Münster.)
Ein Krimi müßte sehr besonders, sehr ungewöhnlich sein, um gern von mir gelesen zu werden. Ich mag das sich zu oft Wiederholende nicht. Kürzlich las ich einen von Georges Simenon – das saß.
Ratgeber kommen mir des öfteren unter die Finger, meistens, weil da jemand einen herausgeben will. In diesem Bereich steckt es ganz besonders, das sich Wiederholende … Dennoch ist es ungemein beliebt und verkauft sich „wie geschnitten Brot“.
Was mein Schreiben aber betrifft, so messe ich es mit demselben Maß, das ich an andere Lesestoffe anlege. Die Frage „Würde ich selbst gern lesen, was ich da gerade schreibe?“ ist die wesentlichste meines Tuns. Ich könnte nicht schreiben – ohne zu lesen.
Andreas H. Buchwald                         Lengenfeld, 19. Januar 2023
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