Schon bei seiner allerersten Lesung deutete sich Ernst-Walter Himmelwahns überragendes Genie an. Das Publikum war ihm wohlgesonnen. Über dreißig Personen füllten das kleine Lokal, in dem der Dichter auftreten durfte, sodass die Sitzgelegenheiten nicht ausreichten und Stuhlnachschub aus den Nachbarräumen herhalten musste. Zufrieden wanderten seine Blicke über bekannte und unbekannte Gesichter. Nun stand er kurz vor seinem hehren Ziel.
„Wenn nur zwei oder drei Ihre Gedichte verstehen, reicht es schon“, hatte ihn Gesine de Bonsuisse gelehrt, eine namhafte Kulturredakteurin. „Der Rest ist sowieso zu dumm, die wahre Essenz guter Lyrik zu begreifen, davon müssen Sie einfach ausgehen.“ (Eigentlich hieß die Dame Gutschweiß, hatte ihren Namen aber zugunsten ihrer journalistischen Karriere geändert, denn mit einem derart plebejischen Etikett kam man nicht weit.)
Daraufhin hatte er erleichtert eben das niedergeschrieben, was man heutzutage von einem Dichter erwartete, denn er wusste, wie wichtig es war, sich aus der grauen Masse abzuheben.
Und nun, vor diesen dreißig neugierig auf ihn gerichteten Augenpaaren, durfte er es zum Besten geben.
Nachdem ein hagerer, zitteriger Kettenraucher mit Dauerlächeln auf den Lippen die Veranstaltung eröffnet und Ernst-Walter Himmelwahn vielwortig vorgestellt hatte, trat dieser endlich vor das Mikrofon. Er hielt das Blatt mit seinem drittbesten Gedicht in der Hand und begann wild und pathetisch zu deklamieren:
unnachahmlich
gehst du
über den
nördlichen schatten
des
pferdearsches
dann aber
plötzlich
als wären wir
zwei
verschweißt in einer
saftigen fotze
ging mir
früher
die luft aus
wann
wenn nicht du?
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie die Gesichter der Zuhörer sich vor Anstrengung verzerrten. Ihre Augen flackerten und ihre Ohrläppchen tanzten.
Er gönnte es ihnen.
Solange Helmuch Zach, der begleitende Klavierspieler, zarte Finger über harte Tasten gleiten ließ, hatte der Dichter Pause und durfte sich entscheiden, welches der aufwühlenden Poeme sich als nächstes für das bereits beträchtlich erschütterte Publikum eignete. In der Hoffnung, dass mindestens zwei Drittel der Interessierten der linksintellektuellen Szene angehörten, wählte er diesmal ein politisch brisanteres.
Es hieß Rotlicht am Arsch, und er trug es weit ausdrucksvoller vor als das erstere.
falls wir
er und du
seit an seit
vermeiden
könnte
niemand
in die arabische sonne
fliehen
einzig in cuba
fidels coca-cola-büchse
rührt lenin
den eigenen schlaf
an
und hemingway schreit nach
meer
Himmelwahn rang nach Atem. Die Gewalt seiner eigenen Worte hatte ihn mitgerissen, ja beinahe umgeworfen. Die dreißig Leute vor ihm, deren Anstrengung sich steigerte, waren ihm gleichgültig geworden.
Wiederum gewährte ihm der Klavierspieler eine wohlverdiente Pause, während der er sich innerlich bebend vorstellte, wie Hemingway nach Meer schrie. Jammerschade, dass zu diesem heiklen Sujet keine saftige Fotze passte. Es war eben viel zu politisch.
Mit einem grandiosen Liebesgedicht wollte Himmelwahn den Auftritt abschließen und krönen. Mehrere Wochen hatte er daran gefeilt und getüftelt und er glaubte nicht, dass ein Außenstehender auch nur die geringste Vorstellung besaß, welch unglaubliche Arbeit, wieviel Mühe und Schweiß in so wenigen Zeilen steckten.
o du
blutfahles mondkind
kuh und kalb
gleichermaßen
weißgliedrig
im tau
des nebelsommers
schreckhaft
zitternd
orgiastisch
krächzend
gleitest du mir
aus dem
gedächtnisverkniffen die fragenden
blassgelben
pobacken
o vergiss mich
denn
erektion ist
glücksspiel
Sie applaudierten erleichtert. Beim nächsten Mal würden sie Bravo! rufen, Da capo! oder Zugabe!
Herablassend betrachtete er sie. Vielleicht würden sie dermaleinst verstehen. Vorerst mochte es genügen, wenn sie ihm huldigten.
Der hagere Kettenraucher wies auf das dünne Bändchen hin, das neben dem Eingang zum Verkauf auslag. Ein namhafter Lyrikverlag hatte es herausgegeben, denn dessen Lektor kannte Himmelwahn seit langem und wusste Qualität zu schätzen. Dass niemand das Büchlein kaufte und signieren ließ, verzieh der Dichter den Leuten. Er wusste, wie schwer es das Große und Zukunftsweisende, das wahrhaft Künstlerische hatte, in die bäuerischen Hirne der unzähligen Otto Normalverbrauchers einzudringen. Ebensogut mochte es sein, dass er, Himmelwahn, seiner Zeit zu weit voraus war, und auch das sprach für den kaum messbaren Wert dessen, was er geschaffen hatte.
In seine Klause – ein Zwölf-Quadratmeter-Zimmer in einer Plattenbauwohnung, das er als Untermieter bewohnte – zurückgekehrt, warf er sich auf das Sofa und plante die nächstnötigen Schritte, um den durchschlagenden Erfolg weiter auszubauen.
Ein Telefonat mit Frau de Bonsuisse bestätigte ihn ungemein.
„Die ,saftige Fotze‘ ist es“, schwärmte sie. „Danach lechzt das Publikum, das heutzutage zumeist aus sexuell frustrierten Spießern besteht.“
„Na ja“, wandte er ein, dem letzten Rest des Zweifels nachspürend, der an ihm nagte, „manchmal denke ich, ich sollte mich klarer und verständlicher ausdrücken, damit ich wenigstens selber weiß, was ich gemeint habe. Falls mal jemand danach fragt.“
„Quatsch!“ beruhigte sie ihn energisch. „iemand wird je danach fragen. Es wird einfach niemand wissen, wonach er in diesem Falle fragen müsste. Kunst zu verstehen ist nicht jedermanns Sache, und das ist ein wesentlicher Trumpf auf seiten des Künstlers. Weiter so, Verehrtester, weiter so! Ich schlage übrigens vor, das Gedicht mit der ,saftigen Fotze‘ einzusenden. Für den Kurt-Kauzig-Poesiepreis.“
Da beging der arme Ernst-Walter Himmelwahn einen Fauxpas.
…
(Aus: A. H. Buchwald, Geschichten aus der Jakobsmuschel, Teil 2, AndreBuchVerlag 2013, ISBN 978-3-942469-01-2; in Wien exkl. erhältl. bei Vox Libri, Jörgerstr. 26.)