Brigitte Sokop – Die andere Art eines Reiseberichtes

Cultura

Neun Tage Italien – mit dem Bus von Wien nach Sorrent und zurück, höchstens zwei Nächte im selben Hotel. Hier ein Triumphbogen, rechts eine byzantinische Kirche, Stehen im Stau, die älteste Uni Europas, der Reiseleiter heißt Claudius und erzählt  wienerisch römische Geschichte, kurz und lustig. Das Grab von Ramazzotto de’ Ramazzotti, da drüben liegt Marzabotto, im Rasthaus frischer Mozarella, ein Palazzo aus dem 14. Jahrhundert, Ponte Vecchio und Ponte Nuova, Suche nach Herrn Karner, Dantes Geburtshaus, Ghibellinen und Guelfen, ach  was für ein süüüßes Hundi, Santa Croce, Savonarola und der Scheiterhaufen, Paradiesestür im Baptisterium, Koffer packen, Ausgrabungen in Fiesole, Rest einer etruskischen Nekropole, 56 Geschlechtertürme, in dieser Gegend hat Hannibal gesiegt, Est! Est! Est! in Orvieto, Zufluchtsort der Päpste, Supermärkte bis 21 Uhr geöffnet, Ansichtskarten vom Campanile – schließlich Rom im Schnürlregen. Der Reiseleiter stößt sein Programm um: heute Kirchentour in der Hoffnung auf Schönwetter am nächsten Tag. Zwanzig Minuten pro Gotteshaus, Michelangelo, die Päpste und ihre Nachkommen, italienische Erdbeeren schmecken in Italien anders,  Fresken, Sgraffiti und Intarsien, Aqua senza blubb-blubb, die Höhe der Apsis, Leonardo, ein Opferlicht für eine gesunde Rückkehr, Putten, irgendetwas ist chiuso, Narthex und Polyptichon, diverse Heilige, Kai-Uwe aus Bochum war hier, nicht Petersdom, sondern Peterskirche, Baldachin und Friedenstaube, Warten auf einen Fotofreak, wieder eine Kreuzesreliquie, der Bus am Hintereingang und das Stadtrandhotel. Am nächsten Morgen dann strahlender Sonnenschein für eine ausgedehnte Stadtrundfahrt: die grauen Kirchen von gestern leuchten, diese Piazza und jene Fontana, Marc Aurel wurde durch Paulus ersetzt, die Säule des Trajan schraubt sich zu Petrus empor, ein Gelato zwischendurch, Reste des Tempels der vergöttlichten Schwiegermutter, in zehn Minuten wieder hier, Herr Karner ist da, Caligula, Caracalla, Gottes Sohn und Messalina, schon wieder an der “Schreibmaschine” vorbei, das Forum wird von der Straße aus überblickt, das Kolosseum wirkt der historischen Bestimmung zum Trotz einladend.  Zur Mittagspause schlägt Alessandro, der einheimische Fremdenführer, ein Lokal vor: dann Treffpunkt 14 Uhr 30 am Pantheon.

Über zwei Stunden Zeit, wir denken nicht an Essen. Zurück zur Via dei Fori Imperiali, auf das Forum Romanum, der Stätte der Märkte und Gerichte, der Götterverehrung, der Politik und Repräsentation. Links beeindruckt der imposante Säulen-Porticus des Antoninus-Tempels, daran angebaut eine Kirche, wie um die alten Götter zu bannen. Dreizehn katholische Gotteshäuser hat man als Abwehrzauber auf das Forum gestellt, einige sind im Gegensatz zum antiken Fundament längst zerfallen. In Gedanken versunken gehen wir Hand in Hand über die für heidnisch erklärte Via Sacra. Hier am Caesar-Tempel die Stelle der historischen Leichenrede des Antonius. Mein handgezeichneter Plan gibt Auskunft: dieser Stein ist eine Ehrensäule, jener der Sockel für das Reiterstandbild des Domitian, der Lapis niger ein locus religiosus. Der Umbilicus Romae zeigt, wo der Mittelpunkt der Stadt, des römischen Reiches, der Nabel der ganzen Welt war. Ich schlendere, mich an viele Jahre ungeliebten Lateinunterrichts erinnernd, durch die Basilica Aemilia, denke an die oft besprochenen Heiligtümer der Dioskuren, der Venus, von Concordia und Jupiter. Ich verweile im Haus der Vestalinnen und memoriere das Gelernte über den Titusbogen. Der Tempel des Saturn überragt alles, eingerüstet und von einem grünen Netz eingehüllt. Bauwerke überliefern Sieg und Triumph, aber auch Härte und Grausamkeit. Der Carcer Mamertinus wurde vornehmsten römischen Bürgern und unterworfenen ausländischen Fürsten zur Hinrichtungsstätte.
Im Amtssitz des Pontifex Maximus finden wir ein lauschiges Plätzchen unter den blauen Blütentrauben von alten Glyzinien; wie von Laren und Penaten umgeben lassen wir die Faszination des geschichtsträchtigen Ortes auf uns wirken. Geistig gestärkt (wenn auch hungrig) finden wir uns beim Pantheon ein.

Signor Alessandro schaut mich vorwurfsvoll an: es sei kulturlos, in Rom zu sein und nicht essen zu gehen.

Brigitte Sokop

Anm.
Italienreise 1984
Die unterschiedliche Schriftbreite bezeichnet die Schnelligkeit des Lesens bedingt durch die gefühlsmäßig erlebte Geschwindigkeit des Ablaufs der Handlung

IN EIGENER SACHE
Frau Brigitte Sokop hat mit dieser Art einer Reiseberichterstattung meiner Meinung nach eine neue Dimension des Schreibens und Vorlesens geschaffen. Im Rahmen einer Leserunde wurde dies vorgetragen und alle Anwesenden zollten Frau Sokop einen langen Beifall.
Matthias Wieser

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